Tagesanzeiger, 19.09.2021
Corona-Demonstration in Winterthur
Mehrere Tausend Massnahmengegner zogen durch die Altstadt
Zertifikatsgegner und Impfskeptiker haben sich zu einer Grosskundgebung in Winterthur versammelt. Nach Angaben der Stadtpolizei verlief der Anlass friedlich.
«Stopp Zensur und Impfdiktatur» lautete das Motto der bewilligten Demonstration in Winterthur. Nach der Ausweitung der Zertifikatspflicht am Montag und den Ausschreitungen an einer unbewilligten Demonstration gegen die «Zerti-Diktatur» und den «Impfzwang» am Donnerstagabend in Bern war die Stimmung im Vorfeld angespannt.
«Diktator Berset muss weg»
Wird es friedlich bleiben, oder drohen Aggressionen wie in Bern? Wie gross ist die Gewaltbereitschaft eines Teils der Massnahmengegner oder Gegendemonstranten?
Zur Kundgebung aufgerufen hatte der Verein Public Eye on Science. Hinter diesem steht Kantonsrat Urs Hans aus Turbenthal. Der Biobauer ist bekannt für seine impfkritische Haltung.
Gegen 14 Uhr versammelten sich mehrere Tausend Personen auf dem Neumarkt, es herrschte eine Art Volksfestatmosphäre. Die Teilnehmenden standen dicht gedrängt, schwenkten Transparente mit Aufschriften wie «Kein Impfzwang», «Hände weg von den Kindern», «Ungeimpft, ungetestet, ungebeugt» oder «Diktator Berset muss weg». Häufig zu sehen waren auch Plakate, die für ein Nein zum Covid-Gesetz warben, über das am 28. November abgestimmt wird. Die Stimmung war friedlich, eine Maske trug niemand.
«Tut gut, unter Gleichgesinnten zu sein»
Eine 60-jährige Pflegefachfrau war eigens aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden an die Demo nach Winterthur gereist. «Ich habe kein Vertrauen in die Impfung», erklärte sie im Gespräch. Sie kenne viele, bei denen es zu Nebenwirkungen gekommen sei. Besorgt zeigte sich die Frau über die zunehmende Spaltung in der Gesellschaft wegen der Impffrage. «Ich merke das mittlerweile in meinem Dorf, in meinem Bekanntenkreis, in meiner Familie.» Wer sich nicht impfen lasse wie sie, werde diskriminiert. «Das ist erschreckend», sagte die Frau. Deshalb tue es jetzt «doppelt gut, unter Gleichgesinnten zu sein».
«Schreibt endlich die Wahrheit!»
Nicht gut auf die Medien zu sprechen war ein 49-jähriger Familienvater aus dem Zürcher Oberland. «Schreibt endlich die Wahrheit», gab er dem Journalisten lautstark zu verstehen. Schliesslich sollte man eine andere Meinung zur Impfung haben dürfen, ohne gleich als Nazi abgestempelt zu werden. «Oder sehen Sie hier auf dem Platz etwa alles Nazis?», fragte er und deutete auf die bunte Gruppe von Personen jeglichen Alters, die sich auf dem Neumarkt versammelt hatte.
Aber auch den resoluten Massnahmenskeptiker beschäftigt der grösser werdende Graben zwischen Impfgegnern und -befürwortern, wie er einräumte. Mittlerweile gebe es auf beiden Seiten solche, die den anderen den Tod wünschten. «Nur noch schlimm», meinte er. Er selbst habe schlicht mehr Angst vor der Impfung als vor Corona. Zudem wisse man einfach noch zu wenig über die Nebenwirkungen.
Ein 58-jähriger Informatiker aus Rotkreuz ZG trug ein Schild mit der Aufschrift: «Fragen stellen, selber denken, Konsequenzen ziehen». Er zweifle an den Impfstoffen und sei vorsichtig, erklärte er. «Was ist, wenn die Bedenkenträger doch recht haben? Dann habe ich die Arschkarte gezogen, wenn ich mich impfen lasse.»
Eine 66-jährige Massagetherapeutin aus dem Thurgau sagte: «Ich stehe da für unsere Freiheit und für unsere Kinder, damit sie in Ruhe gelassen werden beim Impfen.» Für sie sei Corona «eine normale Grippe», sie selbst sei «noch nie richtig krank gewesen, Gott sei Dank». Und dann schob sie noch nach: «Wir werden angelogen, wir dürfen uns einfach nicht weiter an der Nase herumführen lassen.» Ihre Begleiterin, eine 78-jährige Ex-Krankenpflegerin aus dem Kanton St. Gallen, meinte nur: «Soll ich mir Gift spritzen?»
Polizei schirmt linke Gegendemonstranten ab
Immer wieder ertönten aus der Menge «Liberté!»-Rufe. Als die Freiheitstrychler eintrafen, wurden sie jubelnd begrüsst. Dann setzte sich der Demonstrationszug in Richtung Technikumstrasse in Bewegung, begleitet von den schweren Glockenklängen. Die Polizei sicherte die Route ab.
In der General-Guisan-Strasse kam es zu einem heiklen Moment. Eine kleine Gruppe von linken Gegendemonstranten protestierte dort mit Transparenten «Winti bleibt nazifrei», es kam zu Wortgefechten. Polizei und Security-Mitarbeiter der Veranstalter schirmten die Gegendemonstrantinnen und -demonstranten von den Massnahmengegnern ab.
Auch anderswo waren am Rand der Demonstration vereinzelt Gehässigkeiten zu beobachten, da und dort schienen die Nerven blank zu liegen. So deckten Corona-Kritiker Polizeikräfte mit Schimpfwörtern ein, oder Impfbefürworterinnen am Strassenrand stritten sich lautstark mit Demonstranten.
An einem Haus an der Steinberggasse hatten Anwohnende ein Transparent befestigt mit der Aufschrift «Geimpft auch gegen rechte Scheisse».
Viel Kritik – aber auch mässigende Töne
Nach der Demonstration versammelten sich die Teilnehmenden wieder auf dem Neumarkt, wo nicht weniger als 15 Rednerinnen und Redner auftraten, darunter prominente Massnahmenkritiker wie der Komiker Andreas Thiel und der ehemalige stellvertretende «Weltwoche»-Chefredaktor Philipp Gut, daneben auch Gzim Zymberi von der Gruppierung Mass-Voll, Markus Häni von den Freunden der Verfassung oder der Journalist und Verleger Christoph Pfluger, der als eine treibende Kraft hinter den Corona-Demos gilt.
Kritische Voten der diversen Rednerinnen und Redner («Corona? Nonsens», «Fertig mit dem Masken-Irrsinn an Zürcher Schulen») ernteten jeweils viel Applaus und erneute «Liberté!»-Rufe. Aber es gab auch mässigende Töne vom Rednerpult. «Es brodelt in der Gesellschaft», warnte etwa Christoph Pfluger. «Wir müssen schauen, dass es nicht weiter eskaliert und sich die Gräben nicht weiter vertiefen», sagte er. Ziel sei schliesslich «mehr Mitmenschlichkeit». Auch dies wurde mit Applaus quittiert.
Polizei: Keine Ausschreitungen, keine Verhaftungen
Nach Angaben der Stadtpolizei Winterthur nahmen mehrere Tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Demonstration teil. Genauere Angaben könne man nicht machen, erklärte Sprecher Michael Wirz am Abend. Die ganze Veranstaltung sei weitestgehend friedlich verlaufen. An einigen Orten entlang der Route sei es zu kleineren Störaktionen von andersdenkenden Gruppierungen gekommen, bei denen die Polizei habe schlichten müssen. Ausschreitungen oder Sachbeschädigungen habe es keine gegeben, ebenso wenig sei es zu Verhaftungen gekommen.
«Wir haben die Altstadt gefüllt»
Organisator Urs Hans zeigte sich sehr zufrieden – und von der Teilnehmerzahl überrascht. Er hatte im Vorfeld mit etwa 1000 Teilnehmenden gerechnet, gekommen waren sehr viel mehr. «Wir haben die Altstadt gefüllt», rief er am Schluss der Kundgebung triumphierend ins Mikrofon und bedankte sich bei allen «für die friedliche Atmosphäre».
In einer früheren Version dieses Artikels stand, dass Kantonsrat Urs Hans grünes Parteimitglied sei. Wir haben den Fehler korrigiert. Urs Hans politisiert zwar noch im Kantonsrat, aber nicht mehr als Mitglied der Grünen Partei.
Martin Huber ist Redaktor im Ressort Zürich Politik & Wirtschaft. Er studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Zürich.