Landbote, 19.09.2021
Unruhe wegen Corona-DemosFreiheitstrychler spalten Vereine im ganzen Land
Konflikt in der Trychlerszene: Viele stören sich an den Trychlern, die sich an Corona-Demos beteiligen. Sich dagegen zu wehren, beschreibt ein Vereinspräsident als «sozialen Selbstmord».
Im Takt wuchten die Trychler ihre Glocken durch die Menschenmenge auf dem Winterthurer Neumarkt. Tausende Demonstrierende sind am vergangenen Samstag gekommen, um gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrates zu protestieren. Darunter die Freiheitstrychler, die auch an diesem Wochenende den Demonstrationszug der Massnahmenkritiker anführen.
Diese Trychler sind derzeit sehr präsent: auf den Fotos, die von Bundesrat Ueli Maurer vor einer Woche in der Kutte der Freiheitstrychler aufgenommen wurden; bei der Demo in Bern, als Massnahmenkritiker vor dem Bundeshaus demonstrierten – und es zu Ausschreitungen kam; in der SRF-«Arena», als man die Ereignisse von Bern aufarbeiten wollte.
Passen die Demos zum Brauchtum?
«Undemokratisch» sei die Teilnahme der Freiheitstrychler an der Demo in Bern gewesen, «unwürdig» und «unschweizerisch», meinte Sandro Brotz in der letzten «Arena» im Interview mit Andy Benz, selbstständiger Bauführer und Mitgründer der Freiheitstrychler. «Wie kommen Sie darauf?», entgegnete Benz. Wenn er ins Bundeshaus gelangen wolle, dann wisse er, «wo es reingeht, und zwar ohne Krawall».
Die Teilnahme der Freiheitstrychler an den Demos der Massnahmengegner sorgt in den Schweizer Trychlergruppen für Unruhe. In den zahlreichen Vereinen zwischen Freiburg und Herisau wird intensiv darüber diskutiert, ob die Teilnahme an den Demos zum weit verbreiteten Brauchtum passt.
«Trycheln ist mehr als das, was man derzeit auf den Bildern im Fernsehen sehen kann», sagt Stefan Keiser, Präsident der Trychlergruppe Menzingen. In der kleinen Ortschaft im Kanton Zug soll 2023 das nächste eidgenössische Treffen stattfinden. Erst kürzlich hat der 37-Jährige, der im OK amtet, mit Freunden diskutiert, wie man damit umgehen soll, dass Freiheitstrychler das Image des Brauchtums zu beschädigen drohen.
Sich zu äussern, wäre «sozialer Selbstmord»
Denn eigentlich sind jene an den Demos eine deutliche Minderheit. Laut Insidern gehören den Freiheitstrychlern etwa 200 bis 300 Personen an, von denen nicht alle in Vereinen organisiert sind. Tendenz zwar wachsend, aber das sind immer noch sehr wenige, wenn man bedenkt, dass am nächsten eidgenössischen Treffen rund 3000 Trychler erwartet werden, die schweizweit in rund 300 Vereinen organisiert sind.
Stefan Keiser trägt seine beiden Treicheln auf einen der vielen Hügel von Menzingen. Hier oben kann man den Blick schweifen lassen – über den Zuger- und den Zürichsee. Keiser stellt die Glocken ins Gras neben die einzige Linde. Er zeigt mit seiner Hand auf den Sportplatz in der Ortschaft im Tal. «Dort unten kommen in zwei Jahren die ganzen Trychler zusammen», sagt er. Und alle sollen daran teilnehmen können, «auch die Freiheitstrychler», sagt Keiser.
Der Graben in der Trychlerszene geht derzeit auch durch die einzelnen Vereine. Es wäre «sozialer Selbstmord», wenn er sich in der aktuellen Situation öffentlich äussern würde, sagt ein Trychler-Präsident, der angesichts der hitzigen Diskussionen lieber anonym bleiben will.
Wenn die Freiheitstrychler anrufen
Einige Trychler bekennen sich dagegen offen zu einer radikalen Haltung und gehen mit ihren Äusserungen sehr weit. «Meiner Meinung nach sollte man das Bundeshaus abreissen und die frei werdende Fläche für die Landwirtschaft nutzen. Da hätte das Volk mehr davon als von den aktuellen Corona-Massnahmen des Bundesrates», sagt Marco Würsch, Älpler und Präsident der Trychlergruppe Seelisberg.
Josef Winiger war OK-Präsident des letzten grossen Trychlertreffens in Bremgarten, das eigentlich im Jahr 2020 hätte stattfinden sollen, aufgrund von Corona aber abgesagt werden musste. Er äussert, was seiner Meinung nach viele in der Szene denken: «Es ist ein Problem, dass wir nun alle in den gleichen Topf geworfen werden.» In zwei Wochen sei seine Gruppe an einem Abschiedsanlass engagiert, nun frage er sich, ob und wie man das Problem ansprechen wolle. «Müssen wir uns von den Freiheitstrychlern distanzieren?»
«Bietet sich geradezu an»
Niklaus Spühler, Präsident des Trychlervereins im Zürcher Unterland, hat von den Freiheitstrychlern vor einem Jahr einen Anruf erhalten. «Wenig vertrauenswürdig» sei die Person am Apparat gewesen, sagt er. Erst nach mehrmaligem Nachhaken räumte der Anrufer ein, dass er für die Teilnahme an einer Corona-Demo anfrage. «Wir stehen nicht zur Verfügung», wimmelte Spühler den Anrufer ab. Weil es vor längerer Zeit mehrere Anfragen von der SVP gab, habe man die unpolitische Haltung des Vereins in den Statuten vermerkt.
Ähnliches ist auch aus Egerkingen im Kanton Solothurn oder St. Gallen zu hören. «Politisch und konfessionell» sei man neutral, heisst es etwa in den Statuten der «urchigä Bänggner», einem Verein aus dem Kanton St. Gallen. «Für uns ist klar, dass wir nicht bei Demonstrationen oder anderen politischen Veranstaltungen auftreten. Als Verein sind wir nicht politisch», sagt Roman Eberhard, Präsident der «urchigä Bänggner».
Dennoch: Allzu abwegig ist die Teilnahme der Freiheitstrychler an einer politischen Demonstration nicht. «Das bietet sich geradezu an», sagt der Brauchstumsforscher Werner Bellwald. Die Treicheln seien derart laut, dass sie wahrgenommen würden, «ob man will oder nicht». Deshalb seien Treicheln ein «probates Mittel» für politische Demonstrationen. Ausserdem passe das Outfit perfekt zu dem, was man als «‹ursprüngliche› Schweiz, als ‹Freiheit›, als Selbstbestimmung empfindet», wie Bellwald sagt. All das mache das Trycheln zu einer «idealen Kombination, um sich jetzt als akustische Freiheitshelden zu inszenieren».
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hätten sich die Trychler «diversifiziert» – wie andere Aktivitäten und Gestalten des Brauchtums. Man sieht sie jetzt auch an Fussballspielen und an privaten Festen, etwa Hochzeiten.
«Selbstbedienungsladen für Anliegen aller Couleur»
Das Trycheln ist nicht nur vielfältig einsetzbar, es kann gemäss Werner Bellwald auch missbraucht werden: Entgegen der allgemeinen Meinung seien Bräuche wie das Treicheln «offen», erklärt Bellwald. Ihre Formen und Funktionen können sich ändern, lassen sich daher auch «instrumentalisieren», wie Bellwald sagt, «und sie stehen allen zur Verfügung». Wie das Matterhorn und Wilhelm Tell, die in den 1990er–Jahren von unterschiedlichsten Parteien auf Plakaten und Flyern verwendet wurden – von der SP bis zu rechten Parteien. Letztlich sei – so Brauchstumsforscher Werner Bellwald – das Treicheln «ein Selbstbedienungsladen für Anliegen aller Couleur». Damit hadern nun viele Trychler.
«Die Teilnahme an einer solchen Demonstration ist ein Grundrecht, und es steht jedem Trychler frei, sich daran zu beteiligen, aber mit der Pflege des Brauchtums und seiner Geschichte haben die massnahmenkritischen Demonstrationen der Freiheitstrychler nichts zu tun», sagt Sepp Rüegg, Präsident der SVP im thurgauischen Märstetten und zugleich Präsident des Wahlausschusses des Eidgenössischen Schellen- und Trychlertreffens. Die meisten Vereine hätten ihren Ursprung darin, einen bösen Geist, den Winter oder etwas Ähnliches zu vertreiben, was denn auch der Hauptanlass in ihrem Jahreskalender ist. «Der Ursprung der Freiheitstrychler ist dagegen ganz klar politisch, und das ist auch legitim. Wer als Trychler auf die Strasse geht, unterstützt das Anliegen voll und ganz», sagt Rüegg.
«Gehört immer schon zu unserer Tradition»
Anfrage bei einem Freiheitstrychler, der anonym bleiben möchte: Für ihn ist das Engagement der Trychlergruppen an den Demonstrationen der Massnahmenkritiker selbstverständlich. «Das Treicheln an Anlässen gehörte immer schon zu unserer Tradition», sagt er.
Schon früher habe es politische Anlässe gegeben, an denen Trychlergruppen mitgemacht hätten. Etwa an den Berchtoldstag-Reden von Christoph Blocher. Oder an einigen Demos in Bern, die landwirtschaftliche Anliegen betrafen, etwa 2005 gegen das damals geplante Freihandelsabkommen. Nach solchen Kundgebungen sei man mit den Treicheln extra vor der linksautonomen Reitschule durchmarschiert. Um die «bösen Geister» der politischen Gegner zu verscheuchen, wie der Freiheitstrychler sagt.
David Sarasin ist Redaktor im Ressort Zürich. Seine Schwerpunkte sind Nachtleben, Zeitphänomene, Kultur, Gesellschaft und Politik.
Andreas Tobler ist Redaktor, er studierte in Bern und in Berlin, Journalist ist er seit 2004.